Den Digitalpianos gehört vielleicht die Zukunft
- aber gegenwärtig muss es ein Klavier sein!

Musica convivo bedankt sich bei der Leo Kestenberg Musikschule aus Berlin und deren Fachbereichsleiter für Tasteninstrumente Herrn Andreas Eschen für die Bereitstellung dieses Textes.

Digitalpianos sind leicht zu transportieren, können leise gestellt oder mit Kopfhörer gehört werden, man muss sie nicht stimmen. Und sie klingen wie ein echtes Klavier. Warum sollte man das teurere Klavier nehmen?

Um die Unterschiede zu verstehen, muss man erst einmal erklären, was ein Digitalpiano tut. Ein echter Flügelklang wird aufgenommen und gespeichert, und diese Aufnahme wird lauter oder leiser abgespielt, je nachdem, wie schnell oder langsam eine Taste heruntergedrückt wurde. Die Qualität eines Digitalpianos hängt unter anderem davon ab, wieviel Speicherplatz für die "gesampelten« Klänge zur Verfügung steht.

Schlechte Instrumente verwenden eine Aufnahme für viele Nachbartöne und rechnen sie auf eine höhere oder tiefere Tonstufe um. Der echte Klavierklang nimmt aber in jeder Tonhöhe eine etwas andere Klangfarbe an. Bessere Instrumente "sampeln" darum möglichst viele Töne.

Wie der Ton ausklingt, hängt beim Klavier von der Tonhöhe und der Lautstärke des Tons ab. Instrumente sparen Speicherplatz, indem sie nur den Anfang des Originalklangs verwenden, danach über eine Art Wiederholfunktion ("loop") immer denselben Klang beibehalten. Das kann zu hörbaren Klangeinbußen führen. Zwischen Klavieren und Digitalpianos gibt es zur Zeit vier grundlegende Unterschiede:

 

1. "Sampling": Ein echtes Klavier klingt je nach Lautstärke anders. Um den Klangfarbenreichtum eines Klaviers elektronisch nachzubilden, müsste man in jeder Tonhöhe mehrere Klänge "sampeln", jeweils einen für eine Lautstärkestufe. Das wird aus Kostengründen derzeit nicht getan. Aber das ist, als ob man menschliches Flüstern oder Schreien aus einem normal gesprochenen Wort entwickeln wollte, indem man das Wort nur lauter der leiser abspielt. "Echt" klingt nur die mittlere Lautstärke, die dynamische Entwicklung ist unnatürlich und steril. Teurere Instrumente bieten immerhin schon "Multisampling", verschiedene Klangfarben für drei verschiedene Lautstärken. Das entspricht immer noch nicht dem natürlichen Klang, kommt ihm aber schon wesentlich näher.

 

2. "Resonanz": Die Klänge der einzelnen Klaviertöne beeinflussen einander. Auch eine Saite, die nicht angeschlagen wird, wird durch andere Saiten zum Schwingen gebracht. Das hat etwas mit dem Verhältnis der Obertöne zueinander zu tun. Damit können Klänge sich gegenseitig stützen und verstärken, es kann aber auch Interferenzen, verstärkte Schwebungen zwischen den Klängen geben. Dieses Verhältnis lässt sich mathematisch beschreiben und sollte in einem elektronischen Instrument durchaus nachzumachen sein. Von dem feinen aufeinander Reagieren der verschiedenen Töne hängt es ab, wie schön, edel, hart oder weich ein Klavierstück klingt, selbst wenn die Lautstärke im Sinne des bloßen Schalldrucks gleich ist. Hier liegt einer der Gründe für Qualitätsunterschiede zwischen Pianisten. Sie reagieren auf Klangfarbenänderungen, die sich aus dem Wechselspiel der Obertonbeziehungen ergeben. Digitalpianos machen solche Unterschiede nicht. Zwar gibt es bereits Instrumente, die mit "Saitenresonanz" werben. Bisher setzen sie nur einen Bruchteil der hörbaren Resonanzbeziehungen um. Und denen fehlen auch Einschwingphasen, das allmähliche Hervortreten der Obertöne, das für natürliche "Saitenresonanz" charakteristisch ist.

 

Einen noch stärkeren Einfluss auf den Klavierklang hat die Saitenresonanz bei dem Treten des rechten Pedals. Bei einfachen Digitalpianos bewirkt das Treten des Pedals nur die Verlängerung der Töne und keine Klangfarbenveränderung, es gibt nur die Schaltung Pedals an/aus. Das ist bei den teureren Instrumenten besser. Die aufwändigsten bieten auch so viel Pedalstufen an, dass man den Klang allmählich zurücknehmen kann.

 

3. Dynamik: Ein Digitalpiano unterscheidet 128 Lautstärkestufen. Das scheint viel zu sein, ist aber viel zu wenig. Ein normales Klavierstück umfasst ohne weiteres drei bis vier Stimmen, die unterschiedlich laut gespielt werden: Oft ist die Oberstimme am lautesten zu spielen, der Bass nur etwas leiser, die Mittelstimmen noch leiser. Dazu ist noch zwischen den Taktzeiten zu unterscheiden. Die Taktzeit "1" ist normalerweise die lauteste, die anderen Taktzeiten sind leiser, aber auch voneinander unterschieden. Zudem gibt es in manchen Stimmen Einzeltöne, die lauter zu spielen sind, um zusätzliche Stimmen zu entwickeln ("verdeckte Mehrstimmigkeit"). Außerdem müssen noch die Entwicklungen zwischen lauteren und leiseren Stellen im Stück herausgearbeitet werden. All diese Unterschiede sollen sich nun aber nicht von den Extremen ganz laut bis ganz leise bewegen sondern in einem engen Lautstärkebereich, z.B. zwischen Mezzopiano und Mezzoforte. Dafür reichen 128 Klangstufen bei weitem nicht aus.

 

4. Anschlag: Bei einer gewichteten Tastatur braucht es ein bestimmtes Mindestgewicht, um den Ton auszulösen. Darin gleichen sich Digitalpianos und echte Klaviere. Die physikalischen Eigenschaften einer Klaviermechanik und einer Federmechanik bei Digitalpianos unterscheiden sich bei größerer Lautstärke. Um die Masse in immer kürzerer Zeit zu beschleunigen, muss eine immer größere Kraft aufgewendet werden. Für die Feder, die beim Digitalpiano die Masse ersetzt, bleibt die aufzuwendende Kraft immer annähernd gleich. Daher macht es einen Unterschied, ob die Taste eine Masse bewegt oder eine Feder. Je lauter man spielt, desto größer wird der Kraftaufwand, der Anschlag vom Digitalpiano wirkt dagegen zu lasch. Wenn aber die Taste dem lauten Anschlag nicht den richtigen Widerstand entgegensetzt, wird es schwieriger, die Lautstärke richtig abzustufen, also differenziert zu spielen.

Diese Unterschiede sind erheblich. Dabei müsste es nicht bleiben. Es sollte technisch möglich sein, mit größerem Speicheraufwand für die Samples, größerem Rechenaufwand für die Resonanzbeziehungen im Obertonbereich, durch größere dynamische Differenzierung dem Klavierklang sehr nahe zu kommen und durch eine massereichere Mechanik den Anschlag deutlich zu verbessern. Mit Digitalaufnahmen von Konzerten auf CDs kann man schließlich auch einen sehr guten Klangeindruck gewinnen – die Digitalisierung muss nicht zu schlechteren Ergebnissen führen. Noch ist es aber nicht so weit. Und es ist gar nicht sicher, ob ein solches gutes Digitalpiano immer noch billiger wäre als ein Klavier.

 

Lernpsychologie und Hirnforschung legen die Annahme nahe, dass sich bei Kindern die Entwicklungen von Wahrnehmungsfähigkeit und Handlungsfähigkeit gegenseitig ergänzen und beeinflussen. Was man (geistig) unterscheiden lernt, das hängt auch von dem ab, was man (körperlich) unterschiedlich zu machen lernt. Der "Spielapparat" des Klavierspielers bildet eine Einheit aus Handeln und Wahrnehmen. Die künstlerische Ausbildung zielt auf ein intuitives Zusammenspiel von geistiger Vorstellung und Körpergefühl, von Aufnahmefähigkeit für Klänge und Selbstwahrnehmung beim Spielen. Das Unterrichtsinstrument muss darum klanglich und spieltechnisch in der Lage sein, die kindliche Differenzierungsfähigkeit anzuregen.

 

vgl. Manfred Spitzer: Musik im Kopf. Hören, Musizieren, Verstehen und Erleben im neuronalen Netzwerk. Stuttgart 2003, S. 331ff

 

Aber für den Anfang - reicht da nicht vielleicht ein schlechteres Instrument? Für ein paar Monate vielleicht, aber wer kauft für ein paar Monate ein Instrument. Und dann, wenn der Unterricht gut läuft, bekommt der Schüler allmählich ein Gefühl für immer mehr der Unterschiede, die ein Instrument ihm anbietet. Vorausgesetzt, das Instrument kann ihm die Unterschiede überhaupt bieten. Wie aber sollte ein Schüler das Gefühl für Klangdifferenzierungen ausbilden, wenn sein Instrument die Unterschiede gar nicht macht und auf differenziertes Spiel nicht reagiert? Es hat keinen Sinn abzuwarten, bis ein schlechtes Instrument nicht mehr genügt. Im schlimmsten Fall genügt es nämlich immer: Weil der Schüler seine Wahrnehmungsfähigkeit und seine Differenzierungsfähigkeit an diesem Instrument einfach nicht entwickelt.

 

Daher raten wir von Digitalpianos ab und empfehlen für den Klavierunterricht die Anschaffung eines Klaviers.

Andreas Eschen (Fachbereichsleiter für Tasteninstrumente)